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Schadensklassifizierung im Risikomanagement - 
„Welcher Schaden kann entstehen?“

Die ISO 14971 gilt als Standard für das Risikomanagement bei Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika (IVD). Ein Aspekt des Risikomanagementprozesses und der Schwerpunkt dieses Blogs ist die Bestimmung des Schweregrades von Schäden. Die Erstellung einer produktspezifischen (im Gegensatz zu einer generischen) Schadenstabelle wird oft vergessen oder „nebenbei“ während einer Risikoanalyse für ein Produkt durchgeführt. Dies kann zu suboptimalen Ergebnissen und Inkonsistenzen führen. Um die Motivation für eine pragmatische Lösung zu schaffen, wollen wir zunächst einen kleinen Schritt zurückgehen und ein häufiges Szenario betrachten: das Fehlen eines interdisziplinären Teams während der Produktentwicklung. Obwohl F&E-Mitarbeiter für die Produktentwicklung verantwortlich sind, müssen viele andere Abteilungen mitarbeiten, um ein Produkt auf den Markt zu bringen. Im Folgenden soll ein Blick auf das „Kernteam“ geworfen werden.

Risikobewertung bei der Entwicklung von Medizinprodukten

Die Bereitstellung eines vollständigen interdisziplinären und funktionsübergreifenden Teams ist eine Herausforderung für große und kleine Unternehmen. In der stark regulierten Medizinprodukte- und IVD-Branche führt ein Ungleichgewicht häufig dazu, dass bestimmte Aufgaben von Personen ohne die erforderliche Expertise übernommen werden. In vielen Fällen übernimmt die Forschungs- und Entwicklungsabteilung diese Aufgaben und dominiert den Prozess, ähnlich dem Verhalten einer Winkerkrabbe mit einer dominanten Schere, wodurch die Beiträge anderer Abteilungen abgewertet werden. Es ist wichtig, den Wert von Experten aus verschiedenen Bereichen anzuerkennen und ein Gleichgewicht zu finden. Wie dies bei der Identifizierung produktspezifischer Schäden für Patienten erreicht werden kann, soll im Folgenden dargestellt werden.

Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika werden in verschiedenen Bereichen der medizinischen Diagnostik und Therapie eingesetzt. Jeder Bereich birgt seine eigenen Risiken. Die Risikobewertung ist sowohl eine Kunst als auch eine Wissenschaft. Als Menschen versuchen wir, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Schadens, die Wirksamkeit von Risikominderungsmaßnahmen und die Schwere eines Schadens abzuschätzen.

 Ich habe viele Jahre lang Projekte in einer „Winkerkrabben“-Kultur entwickelt und geleitet. Dabei habe ich erlebt, wie Ingenieure über den Schweregrad spezifischer Gefahren diskutierten. Aber was wissen Ingenieure wirklich über die klinische Relevanz von Schäden? Oft wird einfach abgestimmt: Wie viele denken, der Schaden fällt in die Kategorie 3? Wie viele denken, er fällt in die Kategorie 2? Das ist absurd. Wir haben ärztliche Direktoren, die klinisch ausgebildet sind und mit dem Produkt in der Klinik arbeiten. Warum werden diese nicht involviert? Meistens aus zwei Gründen: Sie sind sehr beschäftigt und in der Produktentwicklung herrscht eine „Winkerkrabben-Mentalität“. In einigen Organisationen, in denen ich gearbeitet habe, war der ärztliche Direktor nur Teilzeit angestellt oder das klinische Personal war oft im Außendienst tätig.

Als Randnotiz möchte ich erwähnen, dass es mir in einer Organisation nach viel Widerstand gelungen ist, den Mediziner (ein robuster Notfall- und Militärarzt, der in seiner Laufbahn schon viel gesehen hatte) dazu zu bringen, an einer detaillierten aufgabenbezogenen Risikobewertung mitzuarbeiten. Als er das Prinzip verstand, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er sagte: „Heißt das, dass alle Produkte, die ich in der Notaufnahme benutze, einer solchen Risikoanalyse unterzogen werden? Ich hatte ja keine Ahnung!“ Da wurde ihm klar, wie wichtig Risikoanalysen für die Patientenversorgung sind. Ich frage mich, ob auch andere Führungskräfte davon profitieren könnten.

 

Effizientes Risikomanagement durch spezifische Schadenstabellen

Was aber, wenn der ärztliche Direktor oder das klinische Personal zu beschäftigt sind, um zur Risikobewertung beizutragen? Dann sollten sie Ihnen helfen, eine „spezifische Schadenstabelle“ für Ihr Produkt zu erstellen. Um den dysfunktionalen generischen Ansatz der allgemeinen Abstimmung zu ersetzen, konnten mein Kollege und ich unseren medizinischen Direktor davon überzeugen, eine solche Tabelle zu erstellen. Das hat unseren Risikomanagementprozess erheblich verbessert. Es gab keine Debatten mehr und das Vertrauen in die Schweregradeinteilung stieg. Schauen wir uns genauer an, wie das funktionieren kann.

Die ISO/TR 24971 bietet eine nützliche Tabelle mit Schweregradklassen (eine für 3 Stufen, eine andere für 5 Stufen). Die 5-stufige Tabelle ist unten abgebildet.

Tabelle 1: Allgemeine 5-stufige Tabelle der Schweregradklassen

Schweregradklasse

Allgemeiner Begriff

Mögliche Beschreibung

5

Katastrophal

Führt zum Tod

4

Kritisch

Führt zu bleibenden Schäden oder irreversiblen Verletzungen

3

Ernst

Führt zu Verletzungen oder Beeinträchtigungen, die einen medizinische oder chrirurgischen Eingriff erfordern

2

Gering

Führt zu vorübergehenden Verletzungen oder Beeinträchtigungen, die keinen medizinischen oder chrirurgischen Eingriff erfordern

1

Vernachlässigbar

Führt zu Unannehmlichkeiten oder vorübergehendem Unwohlsein

Wenn Sie diese Tabelle jedoch direkt verwenden, werden Sie am Ende Schäden für verschiedene Gefährdungen diskutieren. Besonders problematisch ist dies bei Gefährdungen, die zu einer „verzögerten Prozedur“ oder zu einer Fehldiagnose führen. Diese Situationen sind sehr domänenspezifisch und ihre potenziellen Schäden variieren. Eine Verzögerung bei der Signalübermittlung an ein lebenserhaltendes Gerät wie einen automatisierten externen Defibrillator (AED) hat einen anderen Schweregrad als eine Verzögerung bei der Signalübermittlung an eine Smartwatch. Aus diesem Grund wird eine praktische, bereichsspezifische Schadenstabelle benötigt. Hier können die Experten aus den verschiedenen Bereichen einen wertvollen Beitrag leisten!

Gemäß ISO/TR 24971 wählt der Hersteller den Schweregrad auf der Grundlage der möglichen Schäden, die ein Medizinprodukt verursachen kann. Die Schweregrade müssen genau definiert sein, um jeden identifizierten Schaden richtig klassifizieren zu können.

Der bestimmungsgemäße Gebrauch eines Produkts kann den Schweregrad eines Schadens erheblich beeinflussen. Beispiele hierfür sind falsche Diagnosen, unangemessene Therapien oder falsche Testergebnisse. Der bestimmungsgemäße Gebrauch des Produkts beeinflusst also die Schwere des Schadens. Wollen wir dies einem F&E-Team zur Diskussion überlassen oder können wir es im Voraus festlegen und damit eine effiziente und effektive Risikoanalyse wesentlich erleichtern? Bei der Einbindung klinischer, funktionsübergreifender Beteiligung ist es von Vorteil, wenn bestimmte Aspekte explizit als Grundlage für die Schadenstabelle festgelegt werden können: Kontext und direkte versus sekundäre (oder tertiäre) Effekte.

Für den Kontext muss eine detaillierte spezifische Gefahrenanalyse für den Produkttyp vorliegen. Tabelle C.1 der ISO 14971:2019 und Anhang A der TIR 24971:2020 zeigen die allgemeinen Gefahren, die das Team in Bezug auf das spezifische Produkt bewerten sollte. Die Identifizierung der produktspezifischen Gefahren ist entscheidend, um anschließend produktspezifische Schäden zu identifizieren. IEC 62366-1 (Gebrauchstauglichkeit) und Cyber-Sicherheit (TIR 57 etc.) sollten ebenfalls berücksichtigt werden. Eine klare Dokumentation des Anwendungsszenarios, des Patientenzustands und der berücksichtigten Nutzerprofile kann hilfreich sein. Sie bietet Kontext und Transparenz für die Begründung.

Es ist sinnvoll, direkte Schäden von sekundären oder tertiären Schäden zu unterscheiden, um die Schweregrade besser zuordnen zu können. Dies hilft, sinnvolle Prioritäten zu setzen. Wenn viele Risiken potenziell zum Tod führen können und als solche bewertet werden, wird jedes Risiko als höchste Priorität eingestuft. Das Team kann sich dann nicht auf die wirklichen Prioritäten konzentrieren.

Zum Beispiel könnte eine schwere Verbrennung zu einer schweren Infektion führen, die zum Tod führt. Bezogen auf Tabelle 1 oben, wird die Verletzung als katastrophal (5) eingestuft, weil sie in einigen Fällen zum Tod führen könnte, oder wird sie als ernst (3) eingestuft, weil die direkte Verletzung eine schwere Verbrennung ist? Dies ist eine Grauzone. 

Eine Unternehmensrichtlinie, die den Schweregrad auf direkte und unmittelbare Sekundärschäden beschränkt, könnte hilfreich sein. Ein Schock, der zu Herzflimmern und möglicherweise zum Tod führen kann, würde dann eine katastrophale (5) Bewertung erhalten. Dagegen würde eine bakterielle Infektion, die zu schweren Verletzungen und möglicherweise zum Tod führt, als ernst (3) und nicht kritisch (4) oder katastrophal (5) eingestuft.

Wenn man diese Art von Analyse in der „Hitze des Gefechts“ in einem zeitlich begrenzten Projekt durchführt, wird man am Ende Diskussionen, Widersprüche und suboptimale Ergebnisse erhalten.

Die Erstellung einer produktspezifischen Schadenstabelle als Teil des Risikobewertungsprozesses kann diese Probleme erheblich reduzieren. Eine Überprüfung und Genehmigung durch das Top-Management stärkt zudem die Compliance mit Richtlinien und die Unternehmenskultur. Die unternehmensspezifische Schadenstabelle gilt für alle Produkte des Herstellers in diesem Bereich (für andere Bereiche können andere Tabellen gelten). Dadurch müssen andere Teams nicht ständig eine Schadenstabelle erstellen. Das interdisziplinäre Entwicklungsteam erkennt und versteht die Schäden, was die Risikoanalyse beschleunigt.

Nachdem Sie Ihr klinisches Team in die Erstellung einer solchen spezifischen Schadenstabelle einbezogen und einige Richtlinien für die Schadensbewertung festgelegt haben, müssen Sie immer noch produktspezifische Bereiche bearbeiten. Dies gilt insbesondere für die Grauzonen. Im Grunde müssen Sie die gesamte produktspezifische Tabelle ausfüllen.

Um zu veranschaulichen, was wir unter produkttypspezifischen Schäden verstehen, betrachten wir unser EKG-Beispiel und zwei verschiedene Produkte auf einer höheren Ebene.

Produkt

Gefährliche Situation

Intermittierendes EKG-Signal

Schaden

Schweregrad des Schadens

Kommentar

AED

Verzögerung –Unfähigkeit zu entscheiden, ob eine Defibrillation durchgeführt werden soll

Defibrillation

wird nicht 

durchgeführt

Katastrophal

Laie kann das Problem nicht beheben, Fibrillation wird vom AED nicht erkannt, was zum sofortigen Tod führt.

Ruhe-EKG

Verzögerung – Unfähigkeit, ein diagnostisch geeignetes EKG aufzuzeichnen

Diagnostisches EKG steht nicht sofort zur Überprüfung zur Verfügung

Vernachlässigbar

Der Techniker hat Zeit, das Problem zu beheben, umzuplanen oder ein anderes Produkt für die Messung zu beschaffen.

Dies mag ein sehr extremes Beispiel sein, aber es zeigt, dass sich für diese beiden unterschiedlichen Produkte für dieselbe Gefahrensituation (Verzögerung der Intervention aufgrund eines intermittierenden EKGs) sehr unterschiedliche potenzielle Schweregrade der Schäden ergeben. Diese Unterschiede in der Schadensschwere berücksichtigen die vorgesehene Anwendung, den Zustand des Patienten, den Anwender, direkte versus sekundäre Auswirkungen usw. Wenn das Herstellerunternehmen Defibrillatoren oder diagnostische EKG-Geräte herstellt, kennt es seine Domäne. Das Wissen um mögliche Schäden im Vorfeld gibt dem Team Sicherheit, wenn es die Risiken durchspricht und Schweregrade zuordnet.

In der Praxis sieht das Arbeitsszenario des Risikobewertungsteams bei der Erstellung einer spezifischen Schadenstabelle wie folgt aus:

  1. In unserem Beispiel identifiziert das Team die Risiken, die zu einer Verzögerung des Einsatzes führen können.
  2. Es überprüft die Schadenstabelle, um festzustellen, wie schwerwiegend der Schaden ist. In unserem Fall ist er vernachlässigbar.
  3. Es geht zur nächsten Gefahr über.
  4. Nun, diese nächste Gefahr kann zu Fehlinformationen über den Gesundheitszustand des Patienten führen. Welcher Schaden könnte daraus entstehen...?

Qserve verfügt über ein großes Netzwerk von Experten aus verschiedenen Bereichen (Klinik, Qualitätssicherung, Regulierung, Ingenieurwesen), die bei der Erstellung spezifischer Schadenstabellen und Risikoanalyseprozesse helfen können. Wir führen eine umfassende Risikoanalyse durch, einschließlich Benutzerfreundlichkeit, Cybersicherheit und spezifischer Risiken im Zusammenhang mit Software und KI. Wir bieten Projektunterstützung, Training und Prozessunterstützung. Unser Ziel ist es, Lücken zu schließen, um eine globale Markteinführung im stark regulierten Bereich der Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika zu erreichen.

Veröffentlicht am:: April 24, 2023
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